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Übern Jordan

Das erste Ruhrgebietsmusikal 


Musik von Stefan Pape 
Texte von Willi Thomczyk

 


Inszenierung


Uraufführung: 23. Mai 1988
Theater Kohlenpott, Flöttmann-Halle, Herne, Bundesrepublik Deutschland 
 

  • Musikalische Leitung: Stefan Pape
  • Regie: Rüdiger Brans, Willi Thomczyk
  • Bühnenbild: Peter Schulze, Rako Radic 
  • Kostüme: Christel Trimborn
  • Choreographie: Martina Paschen


Besetzung:

  • Prinzessin auf dem Eis: Katharina Palm
  • Käpt’n: Joan Pascu
  • Desperado: Ingo Naujoks
  • Puma: Helena Rüegg
  • Nego: Michael Schories
  • Largo: Marc Irrgang
  • Die Hoffnungslosen: Karen Roschild, Ralf Brix, Mario Irrek

 

 

Premierenchronik

D UA 23. Mai 1988 Theater Kohlenpott, Herne

 

 

Inhaltsangabe

 
"Wir sitzen in der Hölle. Hier erfriert man nicht, hier friert man nur. Hier brennt nichts," sagt Largo zu seinem Freund Desperado. Desperado, ein Mechaniker macht sich gleich an Puma ran, eine ehemalige Toilettenfrau, die allen zu Diensten war, sich nun nur nach ein bisschen Liebe und Wärme sehnt, aber auch von Desperado nur ausgenutzt, geschwängert und anschließend im Stich gelassen  wird. Desperados Freund Largo ist weniger an einer real existierenden Frau interessiert. Ihm erscheint immer wieder die Eisprinzessin, begleitet von dem schwarzen Nego einem hingebungsvollen Sklaven, der der Frau im Tütü, die Ihre Pirouetten auf der künstlichen Eisfläche in der Bühnenmitte dreht, hündisch ergeben ist. Beim Namen Nego, dem dunkelhäutigen Begleiter der Eisprinzessin, hat der Buchautor auf das R verzichtet, mit dem er als Negro die Bühnenfigur plakativ hätte kenntlich machen können. Vielmehr tauchen im Verlauf des Stücks  Anspielungen auf die Apartheidpolitik Südafrikas sowie auf Pretoria auf. Was dies mit dem vereisten Kohlenpott zu tun hat, erschließt sich anfangs nicht zwangsläufig. Vielleicht dann doch, denn schlussendlich stellt sich heraus, das Nego zwar schwarz, aber bei weitem kein Neger, sondern nur ein rußverschmierter Bergmann ist. 

Dann gibt es da noch die drei "Hoffnungslosen", die auf ihren Skateboards über die Bühne flitzen; mal von links nach rechts, mal aus der Abflussröhre kommend, mal in sie verschwindend. Sie sind die Underdogs, noch kaputter, als die ganzen anderen kaputten Typen auf der Bühne. Sie sind die Malocher, das Proletariat, die Ausgenutzten. Die Ruhr-Nachrichten beschreiben sie als: "brutale und heruntergekommene Outlaws wie aus einer Orwell'schen Zukunftsvision" und die WAZ steigert sich zu der Aussage, dass sie für "alle Leidtragenden von politischen und wirtschaftlichen (Fehl)-Entwicklungen" stehen. Sie werden nicht nur bis aufs Blut gepeinigt. Vielmehr treiben sie sogar zum Ende des Stücks mit ihrem eigenen Blut, das ihnen von Desperado und Puma unter jeder Menge körperlichen Einsatz abgezapft wird, den wieder flottgemachten Kahn des alten Kapitäns an. Man könnte fast von "Benzin im Blut" sprechen.

Und damit sind wir bei der letzten zu nennenden Bühnenfigur, beim Käpt’n, der im Rhein-Herne-Kanal mit seinem Kahn "Sachsolm" festsitzt, und im Trüben nach seiner Vergangenheit fischt. Ihm hat Thomczyk besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Sprachlich äußert sich der Käpt’n, dargestellt von Joan Pascu, in einer Form des Rotwelsch "eines sondersprachlichen Soziolekts gesellschaftlicher Randgruppen auf der Basis des Deutschen, wie sie seit dem späten Mittelalter besonders bei Bettlern, fahrendem Volk und kriminellen Subjekten in Gebrauch kam". Bei der Figur des Kapitäns, der wie gesagt, seiner eigenen Vergangenheit "nachfischt" hat Autor Thomczyk eine realen Begebenheit verarbeitet. Dies könnte sogar unterschwellig Anlass gewesen sein, das Musikal überhaupt "Übern Jordan" zu nennen. Es geht um den Tod der Rekordschwimmerin Ruth Litzig im Jahre 1933. Ruth Litzig stellte ein Jahr zuvor in einem Stichkanal in Herne den Weltrekord im Dauerschwimmen auf. 74 Stunden war sie im Wasser. Ein Jahr später sollte sie zu Ehren des Führers und zur Eröffnung des Essener Baldeneysees diesen Rekord noch übertreffen. 100 Stunden sollte sie nach dem Willen ihres Verlobten, des Standartenführers Hessler, einer lokale Nazigröße, im Wasser bleiben. 79 Stunden schwamm die 19-jährige bis zur totalen Erschöpfung, bat in den letzten Stunden immer wieder, den Rekordversuch abbrechen zu dürfen, fand jedoch bei ihrer Mutter, ihrem Verlobten und der wie trunkenen Festgesellschaft und der gaffenden Zuschauermenge kein Gehör. "Hier bringe ich Ihnen die beste Schwimmerin der Welt" soll die Mutter der 19-Jährigen gesagt haben, als sie dann doch endlich ihre total entkräftete Tochter ins Krankenaus brachte. Dort starb sie noch am gleichen Tag an einer Lungenentzündung und Blutungen im Gehirn. Ruth Litzig ging praktisch "übern Jordan". Diese Ereignisse verarbeitet Thomczyk fragmentarisch in einem Monolog des Kapitäns, der sich übrigens selbst im Lauf der Handlung als Standartenführer Hessler wiedererkennen muss.

(Klaus Baberg, 2016, unter Verwendung des Vortragsmanuskripts zu "Zwei Musicals - zwei Welten" anläßlich des Jahresmeetings des Deutschen Musicalarchivs am 15.10.2016 in Hamburg)

 


Kritiken

 
"Die Zeit widert mich an. Vertreiben wir sie uns". Willi Thomczyk hat mit "Übern Jordan" eine Revier-Elegie geschrieben, die in teilweise sehr schönen, atmosphärischen Bildern über eine Zustandsbeschreibung, welche jedoch häufig einem Schwanengesang ähnelt, nicht hinauskommt. Dabei gelingen ihm durchaus sehenswerte Parodien auf das Musical-Genre ("Zwei Zeiten") und Sinnbilder: so wird den "Hoffnungslosen" Blut abgezapft, um die Chose wieder flottzumachen als stimmige Chiffre zur Wendepolitik dieser Tage wie auch der zugefrorene Kanal für die Kälte der neuen High-Tech-Gesellschaft steht."

(Herrmann, Pitt. Revier-Elegie - Wohin gehße, Willi?. In: Sonntagsnachrichten Herne-Wanne-Eickel, 29. Mai 1988)


"Hier gibt es nichts zum Lachen. Hier wird das Leben nach allen Regeln einer Kunst zergrübelt, die auch deshalb so fade wirkt, weil selbst in der Wahl der theatralischen Mittel immer wieder ein eklatanter Mangel an individueller Ausdrucksfähigkeit sich zeigt. So wird aus der Not eine Untugend. So läßt man sich von allem und jedem anscheinend gänzlich unbeleckt von Selbstzweifeln inspirieren: von Brecht etwa, natürlich unter dem macht es ja keine noch so klägliche freie Theatergruppe mehr in diesem Land, Beckett, Weill, nach Belieben, die Gedanken sind schjließlich frei, und wenn das ganze Szenarium hin und wieder stark an filmische Endzeitvisionen à la "Mad Max" erinnert, wird und kann auch das vermutlich kein Zufall sein."

(Kück, Michael. In der Sackgasse - das Theater Kohlenpott geht "Übern Jordan" in Herne. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 30. Mai 1988)

 


Medien / Publikationen


Audio-Aufnahmen

  • LP OC Herne 1988

 

 

Empfohlene Zitierweise

 
"Übern Jordan". In: Musicallexikon. Populäres Musiktheater im deutschsprachigen Raum 1945 bis heute. Herausgegeben von Wolfgang Jansen und Klaus Baberg in Verbindung mit dem Zentrum für Populäre Kultur und Musik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. www.musicallexikon.eu

Letzte inhaltliche Änderung: 19. November 2019.